Interview mit Irmgard Sollinger

Matthias Wetzstein:
Interview mit Frau Sollinger 02.10.2002
1. Worin sehen Sie den Vorteil des
Instruments "Unternehmenstheaters"
in Veränderungsprozessen?

Mit dem Theater erzähle ich Geschichten. Das ist meine Theaterauffassung. Ich bringe das zu bearbeitende Thema den Zuschauern über Menschen und nicht über Appelle oder Analysen nahe, Menschen in komplexen Situationen. Das spricht die Zuschauer emotional an. Sie erleben die Konflikte in den Personen des Stücks mit. Solche Szenen haften im Gedächtnis und unterstützen Veränderungsprozesse.
Meine Stücke setzen Ernst und Humor ein. So kann das Publikum die eigenen Dinge mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten. Humor entkrampft und ermöglicht leichter einen neuen Ansatz fürs Nachdenken oder für lösungsorientierte Gespräche.
Ein Theaterstück erreicht eine große Anzahl von Menschen. Sie sehen alle das gleiche Ausgangsmaterial, worauf andere im Unternehmen an diesem Prozess Mitarbeitende zurückgreifen können.
Was viel stärker bedacht werden könnte, ist, Theaterelemente wie Figuren, Symbole, Leitsätze nach der Aufführung noch weiter zu verwenden. Interne Kommunikationsabteilungen können in der Nachkommunikation ein halbes, wenn nicht ein Jahr mit dem Material arbeiten. Hier hat man einen kostengünstigen Folgenutzen.


2. Welche Formen des
Unternehmenstheaters bieten Sie an?

Mein Angebot konnte ich inzwischen zu einem ausgereiften Portfolio ausarbeiten.

An erster Stelle befindet sich das Unternehmenstheater wie ich es gerade ausgeführt habe, also Theaterstücke zu firmenrelevanten Themen, von Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt. Der Auftraggeber stellt das Thema, ich recherchiere und schreibe ein Stück - aus Überzeugung im Team -, engagiere die benötigten Theaterprofis, inszeniere das Stück und führe es auf. Bei mir wird jede Aufführung auch auf Video aufgezeichnet.
Als Beispiel rufen Sie bitte den Button "Mitarbeiter verzweifelt gesucht" auf der ersten Seite auf.

Der nächste Baustein im Portfolio ist das Theater mit Mitarbeitern. Zum Beispiel planten vor einiger Zeit die Mitarbeiter einer Abteilung wegen einer Prozessveränderung eine Informationsveranstaltung und wollten in einer Theaterszene die emotionalen Widerstände aufzeigen. Da alle nur wenig Zeit haben und man im Ingenieursbereich sehr strukturiert arbeitet, hat sich folgendes Vorgehen bewährt: Von meiner Seite kommen mehrere Inszenierungsideen. Die Beteiligten legen fest, welche Themen behandelt und welche Botschaften übermittelt werden sollen. Dann improvisieren wir das Ganze und ich nehme es sofort mit der Videokamera auf. Meist ist schon in diesem frühen Stadium viel Brauchbares dabei. Nach ein oder zwei Wiederholungen wird der entstandene Text abgetippt. Ihn jetzt zu redigieren ist viel einfacher, als ein leeres Blatt füllen zu müssen. Außerdem bleibt die Sprache lebendig und fällt nicht so sehr der Verschriftlichung zum Opfer. Gleichzeitig verfestigt sich bei den Teilnehmern schon der Text. Das Verfahren hat sich als ausgesprochen effektiv erwiesen.

Als nächstes sehen Sie in meinem Portfolio die "Inszenierte Präsentation". Ich nenne sie so, weil ich jenseits der immer gleichen Power Point Präsentationen nach dialogischeren Formen suche. Spielelemente aus dem Theater eignen sich dafür gut.
Meine erste Arbeit war 1995 die Präsentation des damals neuen 5er BMW. Da das Auto zum ersten Mal konsequent in interdisziplinärer Teamarbeit entwickelt worden war, sah der für die Präsentation zuständige Projektleiter die Möglichkeit, gleichzeitig mit dem Produkt, dem Auto, das Thema Teamarbeit ansprechen zu können. Der entscheidende Punkt war, Produktthemen mit Prozessthemen zu verbinden und das Interesse am Produkt zu nutzen, um Prozessbotschaften zu fördern. Er hatte die Idee, das Entwicklungsteam auf die Bühne zu bringen, um das Auto vorzustellen. Man muss wissen, dass es vorher so etwas noch nie gegeben hatte. Wir erstellten dann in sehr kurzer Zeit die Präsentation und brachten sie mit 14 Personen zehn Mal auf die Bühne. Eine Szene mag Ihnen verdeutlichen, wie die "Inszenierte Präsentation" funktioniert. Einer der Entwicklungsingenieure geht auf der Bühne zu einem Mitarbeiter vom Pilotwerk und sagt: "Na, erinnerst du dich noch, als wir Entwicklungsingenieure bei euch im Pilotwerk am Band waren, um zu sehen, ob das, was wir uns ausgedacht haben, auch funktioniert?" Dieser klopft ihm auf die Schulter und sagt schmunzelnd: "Ja, da habt ihr manches von uns gelernt!" Und weiter geht es mit Zahlen, Daten, Fakten und ruhig auch Power Point Charts. Die Zuschauer erhielten in dieser Präsentation so viele Informationen wie sonst auch, doch die Unterbrechungen erleichterten es, aufmerksam bei der Sache zu bleiben. Die Veranstaltungsmanagerin meinte nach eingen Aufführungen: "Merkwürdig, gewöhnlich kommen sie ganz erschlagen aus einer Veranstaltung und hier sind sie munter."

Als Kunstgriff habe ich eine Figur geschaffen, die "Fee von BMW". Sie ist blau gekleidet, manchmal auch blau geschminkt, ein Wesen, das mehrere Funktionen hat. Sie erlaubt mir, in das Stück eine Reflexionsebene, eine Metaebene einzuziehen. Im ersten Stück "German Engine - British Style" sprach sie die Gedanken der Theaterfiguren aus. Im Stück "Drive by Fire" war sie eine Art Spiellenkerin, die die Ingenieure herausfordert und mit Vorstandsbotschaften konfrontiert. Im Stück
"Mitarbeiter verzweifelt gesucht" kann sie die Gedanken der Zuschauer lesen. Diese Ebene erlaubt mir, das Geschehen zu kommentieren und all jene Gedanken und Botschaften auszudrücken, die die Handlung des Stücks sprengen würden.
Als besonderes Einsatzbeispiel möchte ich auf die Pulverklarlack-Präsentation bei der "Surcar" 2001, einem Weltkongress zum Thema Oberflächenbearbeitung in Cannes eingehen. Meine beiden Auftraggeber wollten eine Präsentation, die unter die Haut geht. Ich setzte die Fee von BMW ein, eine Schauspielerin. Sie hatte verschiedene Funktionen, war die Stichwortgeberin ("Muss ich mir das Verfahren so vorstellen, dass...?"), äußerte unangenehme Nachfragen ("Was ist bei einem Kratzer?") und sie sorgte für Unterbrechungen aller Art ("Pulverpistole? ... Ah!...Hollywood! Cannes! Cary Grant!"). Zum Schluss betonte sie die Vorzüge des Produkts. Sie durfte das tun, ohne peinlich zu wirken. Das Resultat: BMW gewann (zum ersten Mal) einen Preis, und zwar gleich einen Doppelpreis für die beste Präsentation und das innovativste Produkt und der Vertreter eines anderen Unternehmens meinte: So eine Fee hätten wir auch gerne!

Der letzte Baustein meines Portfolios ist das Training "Auftreten, Präsentieren, Rhetorik für Ingenieure". Dort benutze ich das Theater als Handwerkszeug. Ich habe aufgrund meiner langen Erfahrung mit Präsentationen sechs Basics guten Auftretens zusammengestellt, drei körpersprachliche und drei sprachliche Schritte, sehr strukturiert. Damit kann ich auch noch kurz, bevor jemand auftreten muss, persönliche Tipps beisteuern. Ich halte aber auch gern ein dreitägiges Seminar mit vielen Übungen.
3. Welche Einsatzmöglichkeiten sehen Sie für Unternehmenstheater?

Veranstaltungen, die menschliche Themen adressieren, Kick-off Veranstaltungen, Veranstaltungen in Change-Prozessen, Präsentationen.


4. Haben Sie für verschiedene Themen
unterschiedliche Theaterformen?


Nein, es ist nicht das Thema, das die Theaterform festlegt, sondern die Rahmenbedingungen, wie z.B. Größe des Publikums, Spiel mit Laien oder Profis, zur Verfügung stehende Zeit, räumliche Verhältnisse, Einbettung in einen größeren Veranstaltungskontext, auch die Unterscheidung zwischen Aufführung und Seminar.


5. "Widerstand gegenüber Veränderungen"
- Wie gehen Sie mit diesem Thema um?


Dieses Thema spielt in meinen Stücken eine Hauptmelodie. Denn Widerstände sind Emotionen. Sie können in Power Point Charts kaum und in den Personen eines Stücks sehr gut dem Publikum nahe gebracht werden.


6. Was sind für Sie Erfolgsfaktoren beim Einsatz von Unternehmenstheater?

Zuallererst möchte ich die Beteiligung der Auftraggeber nennen. Sie sollten sich dessen bewusst sein, dass für sie selbst Arbeitsaufwand entsteht. Im Vorfeld mögen manche denken, sie engagieren das Team Sollinger und bekommen in vier Wochen das fertige Produkt. Doch so ist es nicht. Ich muss ausgesprochen präzise arbeiten, damit das Stück die Situation im Unternehmen widerspiegelt. Dazu muss ich schnelle und häufige Absprachemöglichkeiten mit den Auftraggebern haben und außerdem mit einer Reihe von Ressourcepersonen sprechen. Das alles ist für die Auftraggeber zeitintensiv.

Als nächstes sollten die verantwortlichen Führungskräfte deutlich hinter einer Theaterinszenierung stehen. Sie sollten durchaus den Zuschauern mitteilen, dass das Stück eigens in Auftrag gegeben wurde, dass die Inhalte recherchiert sind, dass viele Sätze und Meinungen, die in den Text eingearbeitet wurden, von den Mitarbeitern selber stammen, und dass es ein Stück Wertschätzung den Mitarbeitern gegenüber bedeutet: Hier wurde Geld für sie ausgegeben!

Zuletzt möchte ich noch auf das Debriefing hinweisen. Man müsste nach der Vorstellung über das Stück sprechen. Vor allem, wenn ein Stück mit Verfremdungselementen arbeitet, ist es wichtig, den Transfer sicherzustellen.


7.Welche ergänzende Maßnahmen halten Sie beim Einsatz von Unternehmens-
theater für sinnvoll?


Mein Wunsch wäre es, dass die Kollegen vom Teamtraining, die längerfristig in den Veränderungsprozessen mit den Teams arbeiten, Elemente aus dem Theaterstück in ihren Teamtrainings nutzen. Das könnten bestimmte Geschichten oder Bilder, die das Theater kreiert hat, sein, oder Konflikte, die dort verarbeitet sind. Am schönsten fände ich es, wenn möglichst viele an diesem Prozess Beteiligten frühzeitig mit mir kooperieren würden.


8. Wie kamen Sie zum
Unternehmenstheater?


Ich bewege mich schon lange in dem Dreieck Mathematik - Pädagogik - Theater, denn von Haus aus bin ich Diplompädagogin und Theaterpädagogin, Mathematikerin und Germanistin. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ich in ingenieursbetonten Unternehmen arbeite.
Zuerst befasste ich mich mit dem Amateurtheater. 1987 gründete und leitete ich die freie Theatergruppe, "Jasoscha - experimentelles Theater Markdorf", 1992 schrieb ich das Buch "Animation im Amateurtheater". Die Arbeit mit Laiendarstellern nützt mir bis heute, wenn es um die Verbesserung des Auftrittsvermögens meiner Kunden geht. Als ich mich 1993 selbständig machte, war es meine Ziel, Theater und Business zu verbinden. Ich hatte immer wieder erfahren, dass das Theater Intellekt und Emotionen gleichermaßen anspricht und dass die Übungen der modernen Theaterpädagogik den Teilnehmern in einem umfassenden Sinn gut tun. Bei BMW fand ich Ansprechpartner, die von diesem Konzept angetan waren.


9.Zu Ihrer Firma "Sollinger t&k -
Theater - Training - Kompetenz"


Bei meiner Firmengründung standen mir zwei persönliche, für den Businessmarkt in Frage kommende Kompetenzen zur Auswahl: "Theater" und "Interkulturelle Kommunikation". Eine Reihe von Jahren trieb ich beide Themen voran. Zuerst arbeitete ich im institutionellen Bereich, z.B. in der Landeszentrale für politische Bildung, ausserdem hatte ich viele Jahre lang Lehraufträge an der Pädagogischen Hochschule Weingarten und der FH Ravensburg. Im Business fand zuerst das Theaterthema Interesse. Bei BMW bekam ich 1995 den ersten Auftrag.
Das interkulturelle Thema entwickelte ich 1996 in Richtung China weiter, indem ich mit zwei Partnern eine zweite Firma gründete, die "West-Ost-Drachen". Mein chinesischer Partner, Prof. Dr. Li Xiaoyun, leitet ein hochqualifiziertes chinesisches Trainingsinstitut und mein deutscher Partner, Dr. Dieter Albrecht, arbeitet als Consultant in Beijing. Wir boten interkulturelles Training für deutsche Firmen in China an und hatten mehrere deutsche Grossunternehmen als Kunden. Ich etablierte die Firma in China und war für das Management verantwortlich. Meine Partner führten die Trainings und Coachings vor Ort durch. In fünf Jahren flog ich 15 Mal nach Beijing, besuchte unsere Kunden und acquirierte Neuaufträge. Parallel dazu wuchs meine erste Firma "t&k" mit dem Geschäftsfeld "Unternehmenstheater", das
ich ihr inzwischen allein zugewiesen hatte, kontinuierlich. Waren es zuerst vor allem Präsentationen, die ich mit Theaterelementen kombinierte, so kamen ab 1999 Aufträge für Theaterstücke dazu. Im Jahr 2000 entschloss ich mich, die "West-Ost-Drachen" meinen Partnern zu übergeben und mich auf das Unternehmenstheater zu konzentrieren. Als letzten Auftrag in China führte ich noch zusammen mit zwei chinesischen Regisseurinnen und Studenten und Studentinnen der Schauspielakademie Beijing ein eigens entwickeltes Stück für ein großes deutsches Unternehmen auf. So verabschiedete ich mich auch von China mit Unternehmenstheater.


10. Arbeiten Sie mit festangestellten oder
mit freien Mitarbeitern?


Immer mit Freien. Das sind inzwischen 19 Theaterprofis, Schauspielerinnen und Schauspieler natürlich, eine Sängerin, zwei Texter, ein Lichtdesigner, ein Musiker, eine Maskenbildnerin, eine Bühnen- und Kostümbildnerin. Einige meiner Schauspieler haben Doppelqualifikationen. Ausserdem kooperiere ich mit Videoproduzenten.


Das Interview entstand während der Begleitung des Theaterprojekts "Mitarbeiter verzweifelt gesucht" im Rahmen der Diplomarbeit von Matthias Wetzstein
Veröffentlicht Berlin 2003.